Info3, Ausgabe Dezember 2016
Gedruckte Ausgabe
geheftet
€ 5,80
Gesunde Lebenskunst (12/2016)
Ausgleich schaffen: körperlich, seelisch, kreativ

Der Morgen des 9. November war ein böses Erwachen: Weitgehend unerwartet hatte das amerikanische Wahlsystem einen rüpelhaften und politisch unerfahrenen US-Milliardär zum Präsidenten der größten Weltmacht erkoren. Sein Umfeld: Industrie-Tycoone, sein Familienclan, amerikanische Rechtsaußen und weiße Rassisten. Wenn die Temperaturen nahe am Nullpunkt sind, gibt es einen Moment, wo auf einen Schlag die Oberfläche eines ganzen Gewässers zufriert. So habe ich diesen Tag empfunden, an dem sich die soziale Landschaft der Erde wie mit einer unsichtbaren Eisfläche überzog, die jetzt von Trump über die Brexit-Briten, AfD und Pegida bis zu Orban, Erdogan und Putin reicht.

Ein anderes Motiv dieser Zeit ist mit dem Sänger Leonard Cohen verbunden, der zwei Tage vor Trumps Wahlsieg gestorben ist. Cohen hatte kurz zuvor ein letztes Album mit einem Titelsong herausgebracht, der mir wie der Soundtrack zu unseren Tagen erscheint: „You want it darker“ heißt das Lied und besingt die Zerrissenheit eines Menschen, der an Gottes Güte angesichts einer Welt von Gewalt verzweifelt. Wer denkt bei Cohens Zeilen „A million candles burning / for the help that never came“ nicht an die verzweifelten Menschen in Aleppo oder in anderen Kriegsgebieten heute und in der Vergangenheit?

Das erschütternd Große an Cohens Lied liegt darin, dass trotz allem seine Klage – in der Tradition Abrahams und anderer Propheten – mit einem leidenschaftlichen Ruf absoluter Ergebenheit endet: „Hineni, hineni (Hier bin ich) / I’m ready, my lord“. Mit diesem Ruf ist Leonard Cohen gestorben.

Wenige Tage später wurde ich auf eine Auslegung dieses Lieds durch den Londoner Rabbiner Jonathan Sacks aufmerksam, der es zu meiner Überraschung in den aktuellen Kontext der US-Wahl und des Vordringens autoritativer Kräfte in Europa stellte. Auch im persönlichen Freundeskreis, besonders von Menschen im Umfeld unserer langjährig gepflegten „Herbstakademie Frankfurt“, ergab sich bei Gesprächen der Konsens, dass sozial-spirituell engagierte Menschen jetzt die Zeitereignisse nicht ignorieren können, sondern sich zu der akuten Bedrohung unserer offenen Gesellschaft positionieren müssen.

Eine ganze Reihe von Anzeichen macht mir Hoffnung, dass sich angesichts des autoritativen Rucks in der Welt gegenwärtig auch eine Internationale der wachsamen Herzen bildet, in der sich Menschen verschiedenster Strömungen und Traditionen angesichts der Gefahr in einem gemeinsamen Geist erkennen und verbinden. Vielleicht können auch sie sagen „Hier bin ich!“